GIORGIO DE CHIRICO
FAYE FORMISANO
AUDREY GUTTMAN
LULÙ NUTI
AENIGMA
04.07.2025 - 02.08.2025
Das Ausstellungskonzept entspringt einer vertieften Auseinandersetzung mit der einzigartigen Beziehung des italienischen Künstlers Giorgio de Chirico zur bayerischen Landeshauptstadt. Obwohl geographisch weit von seinen griechischen Wurzeln entfernt, war München ein prägender Ort in de Chiricos seiner künstlerischen Laufbahn – eine Art umgekehrte romantische Bildungsreise. De Chirico machte die Stadt zu einem integralen Teil seiner poetischen Welt. Die Stadt wurde zu einem integralen Bestandteil seiner poetischen Welt: Unter dem Eindruck des „deutschen“ Neoklassizismus entwickelte de Chirico in München wesentliche Elemente seiner später ikonischen, rätselhaften Bildsprache. In einem seiner frühen Selbstporträts formulierte er die zentrale Frage, die fortan wie ein Ariadnefaden durch sein Werk führt: Et quid amabo nisi quod aenigma est? – „Und was sollte ich lieben, wenn nicht das Rätsel?“
Das Rätsel – in de Chiricos Verständnis mystisch und metaphysisch – erscheint zugleich als erkenntnistheoretisches Werkzeug: Es dient der Forschung, Erinnerung, Entdeckung, Interpretation; es birgt Zufall und Irrtum, ungelöste Fragen – und nicht zuletzt: das Spiel.
Drei Künstlerinnen – Audrey Guttman, Faye Formisano und Lulù Nuti – treten in einen vielschichtigen Dialog mit de Chiricos enigmatischer Zeichnung Bagni misteriosi (1973). Sie untersuchen das Rätsel aus zeitgenössischer Perspektive: Welche Form nimmt das Enigma in unserer Gegenwart an? Ist es ein Spiel? Ein Traum? Ein tastender Pfad zur Wahrheit? Eine Hommage an das Ambivalente, das Fragmentarische, das Unbeantwortete? Oder ist das Rätsel selbst vielleicht die Lösung – oder vielmehr: die Frage?
Faye Formisano (*1984 in Toulouse), französische Forscherin und Filmemacherin mit einer Ausbildung im Textildesign, widmet ihr künstlerisches Schaffen der geheimnisvollen Materie von Träumen, der Nacht und den Ursprüngen der Welt. Die gezeigten Skulpturen entstammen der Werkreihe They Dream in My Bones – Insemnopedy II (2023), einer vielschichtigen, fiktionalen Installation, die sich über verschiedene Medien entfaltet – darunter ein Virtual-Reality-Film, eine Textilinstallation und eine Serie von Zeichnungen. Diese Arbeiten führen in den imaginativen Kosmos von Roderick Norman, einem fiktiven Pionier der Oneirogenetik – einer von ihm begründeten Disziplin, die es ermöglicht, Träume aus der DNA eines anonymen Skeletts zu extrahieren. In dieser liminalen Erfahrung materialisiert sich ein symbolisches Gewebe, das das Physische mit dem Metaphysischen verschränkt.
Für die Ausstellung wurden mehrere Glasskulpturen ausgewählt, die Formisanos jüngste materielle Erkundungen reflektieren. In ihrer Zerbrechlichkeit, formalen Flüchtigkeit und Durchlässigkeit artikulieren sie die fragile Schnittstelle zwischen realer und traumhafter Sphäre, zwischen Geschlecht und Biologie, zwischen individuellem Körper und symbiotischer Mikrofauna. In diesen Werken schimmert ein Nachdenken über die Ursprünge des Menschlichen wie des Prä-Menschlichen durch – ein tastender Zugriff auf eine vorsprachliche Anthropologie der Form.
Im Galerieraum wird die Videoarbeit Insemnopedy I: The Dream of Victor F. (2019) auf Stoff projiziert – ein 22 Minuten und 51 Sekunden langer Experimentalfilm. Formisano lädt das Publikum ein, in einen bestimmten Moment nächtlicher Zwischenzustände einzutauchen: eine einsame, fantastische Passage zwischen Schlaf und Erwachen, in der sich unsere gewohnte Beziehung zu Zeit und Realität auflöst und neu konfiguriert.
Der Film ist lose angelehnt an die unheimliche Figur des Victor Frankenstein und entfaltet den traumartigen Zustand, den dieser in der Nacht nach der Erschaffung seiner Kreatur durchlebt. Die Tänzerin Lilou Robert, eine Frau, verkörpert Victor F. – ein bewusster Perspektivwechsel, der den mythologischen Diskurs um Geschöpf und Schöpfer dekonstruiert. Ausgehend von Mary Shelleys Text adaptiert und erweitert Formisano die narrative Struktur, wobei sich allmählich das klassische Motiv des Doppelgängers entfaltet – jenes ikonische Spannungsfeld, in dem sich Schöpfer und Geschöpf spiegeln und vermischen. Die Kreatur bleibt – wie im literarischen Original – namenlos, doch in der kollektiven Imagination hat sich der Name Frankenstein mit dem „Monster“ verschmolzen. Der Film verweilt in jenem traumhaften Zustand, der Victor heimsucht, und lotet darin die fragile, tabuisierte Verbindung zwischen schöpferischem Akt und existenzieller Verantwortung aus – ein Spiel mit Spiegelbildern und Identitätsverschiebungen.
Im Zentrum steht die Frage: Ist Schöpfung stets kathartisch, restaurativ, versöhnend? Formisano nähert sich dem enigmatischen Ursprung des Lebens mit ästhetischer Präzision und philosophischer Tiefe. Der Stoff, auf den der Film projiziert wird, fungiert dabei nicht nur als Trägermedium, sondern als semantisch aufgeladenes Material: Er verweist auf dessen Rolle in der textilen, künstlerischen und wissenschaftlichen Praxis der Künstlerin – und auf seine symbolische Beziehung zum Unbewussten, zu Geistern, zu Transformationen. In dieser Verbindung spannt sich ein Bogen zu historischen Konnotationen des Stoffes in der Bildhauerei, der bildenden Kunst und insbesondere im Film – jenem Medium, das sich ebenfalls durch Projektion, Flüchtigkeit und Licht materialisiert.
Audrey Guttman (*1987 in Brüssel) ist eine multidisziplinär arbeitende belgische Künstlerin, die sich vor allem der Collage, Assemblage und Poesie widmet. Ihre Arbeiten sind radikal im Umgang mit Bildern – Fotografien, alten Zeitungen, Postkarten –, die sie zerschneidet, dekonstruiert und neu zusammensetzt. So entstehen vielschichtige Szenerien, in denen visuelle Fragmente subversive und poetische Rollen zugleich übernehmen. Das Unbewusste und die Traumwelt mit ihren verschlungenen Fragen erhalten in ihren Werken Form und Sprache.
Für diese Ausstellung hat Guttman eine ortsspezifische Arbeit geschaffen, die nicht nur mit dem Galerieraum, sondern auch mit der Stadt München und dem titelgebenden Zitat von Giorgio de Chirico in einen vielschichtigen Dialog tritt: Et quid amabo nisi quod aenigma est? – „Und was sollte ich lieben, wenn nicht das Rätsel?“
Den Ausgangspunkt bildete eine einfache Frage während ihrer ersten Reise nach München: Wie sieht die geografische Form dieser Stadt aus? Aus dieser Frage entstand eine imaginäre Karte, die sich in ein vielschichtiges Labyrinth aus Collagen, Cyanotypien, Gedichten und rätselhaften Installationen verwandelte. Einige der Werke entstanden während ihres Aufenthalts in Bayern – etwa Time Travel (2025), ein Schatten aus der Geschichte der Glyptothek, eingefroren in der Zeit, die ihn von seinem Ursprung trennt. Er erinnert an die Statue in einem der frühen, von Nietzsche inspirierten Gemälde de Chiricos: Das Rätsel des Orakels(1909). Die Auseinandersetzung mit Zeit, Erinnerung und Mythologie setzt sich im Diptychon Kunstreal fort, in dem ein Kouros dem rätselhaften Lächeln der Mona Lisa gegenübertritt – ein Dialog zwischen Antike und Moderne.
Audrey Guttman stellt Fragen, die weitere Fragen gebären, und macht so das Konzept der Ausstellung unmittelbar erfahrbar. Mit einer ausgeprägt surrealistischen Sensibilität entwirft sie ein Labyrinth aus Fragen, das nicht zur Lösung, sondern zur Erfahrung führt – gnōthi seauton, erkenne dich selbst. Es ist eine Ode an das Fragen als schöpferischen Akt. Zweifel wird hier nicht aufgelöst, sondern in ein aktives Spielfeld verwandelt: Wie der Läufer im Schachspiel diagonal denkt, muss auch der Gedanke neue Bahnen beschreiten, um der Trägheit des Geistes zu entkommen. Das Rätsel soll nicht gelöst, sondern bewohnt werden.
Auch mit dem Namen der Galerie spielt die Künstlerin: Heldenreizer – die Heldin, die nach etwas strebt. In dieser Mauerreise werden wir alle zu Heldinnen und Helden, wenn wir uns den Fragen stellen, die Guttman in den Raum stellt: eine ewige Wiederkehr ohne endgültige Antwort – nur das Rätsel bleibt, kristallisiert im offenen Zweifel, der das Leben selbst in Frage stellt.
Die italienische Künstlerin Lulù Nuti (*1988 in Rom) hinterfragt in ihren Arbeiten die komplexe Beziehung zwischen Natur und Individuum sowie zwischen Individuum und Gesellschaft. Über ihre Skulpturen und deren Interaktion mit dem Ausstellungsraum eröffnet sie neue Perspektiven und Lösungsansätze. Dabei verschmilzt ästhetische Forschung mit technischer Analyse, und die skulpturale Geste wird mit politischen Fragestellungen verknüpft.
Ein Beispiel dafür ist das Skulpturenensemble Sun Sulfur Iron IV (2019–2020), zwei Muscheln unterschiedlicher Größe, die an Fundstücke aus dem Urmeer erinnern. Ihr Inneres ist mit phosphoreszierenden Mustern verziert, die die Umrisse der Kontinente nachzeichnen. Die Serie ist Teil eines größeren Projekts mit dem Titel Calcare il mondo (Die Welt gestalten) (seit 2016) und besteht aus Negativabgüssen von geografischen Globen, die aus recycelten Baumaterialien – Zement, Gips, Klebstoff – hergestellt wurden und deren ökologische Auswirkungen hinterfragen. Mit Sun Sulfur Iron lässt die Künstlerin prähistorischen Muscheln metaphorisch wiederauferstehen und symbolisiert damit die Wiedergeburt inmitten der Zerstörungskraft des Menschen gegenüber der Natur. Tatsächlich wird der für die Zementherstellung verwendete Sand vom Meeresboden ausgebaggert, und zwei Drittel der Gebäude weltweit bestehen aus Zement. Jedes Gebäude entspricht einer Wunde im globalen Organismus und verwandelt die Welt in ein zerbrechliches Gefäß. Nuti sucht nach Gesten, die das biologische Gedächtnis der Welt und ihre ursprünglichen Formen schützen. Calcare il mondo stellt eine implodierte Welt dar, die durch das Gewicht der aus ihr gewonnenen Materialien entleert ist. Wir stehen vor dem Rätsel einer Welt danach – vielleicht ein neuer Urknall? Die Muscheln von Sun Sulfur Iron sind unverfälschte „Fehler“ – eingestürzte Abgüsse der Welt. Die Künstlerin betont die zufällige Vorherrschaft der Natur und ihre utopische Erhaltung, indem sie lebendige Farben von Meerestieren hinzufügt. Nachts und im Dunkeln beginnen die Innenseiten der Muschelschalen zu leuchten und geben den Blick auf eine Weltkarte frei. Die Muschelschale kehrt konzeptionell zum Meeresboden zurück. Hier fallen Lösung und Fehler zusammen – der Tanz mit dem Material umfasst das Zufällige, sowohl das Ende von heute als auch den Anfang von morgen.
Diese ewige Rückkehr der Materie – vom Subtrahieren zur Schöpfung und zurück – wird im Werk Danzante dormiente (2024) verdeutlicht. Die Künstlerin reflektiert in dieser raumgreifenden Arbeit über regenerative Zyklen und konzipierte und schmiedete diese dreizehn Meter lange Eisenskulptur rund um den Brunnen der Accademia Nazionale di San Luca in Rom. Ihre zyklische Form erinnert an den Ouroboros, ein antikes Symbol, das eine Schlange darstellt, die sich selbst verzehrt, um zu überleben und so die Zyklen des Lebens und der Regeneration sowie den dunkleren Akt der Autophagie symbolisiert. Wie der Schmied, der einen Hammer aus demselben Metall formt, mit dem er selbiges Metall bearbeitet. Werkzeug und Material werden zu einem – ein Material, das mit einzigartigen Eigenschaften ausgestattet ist. Wie das Metall im Erdkern symbolisiert es Implosion und Explosion. Danzante dormiente verkörpert zudem die Autogenese und Selbstgenügsamkeit eines sich selbst fortpflanzenden Universums, das endlos Zyklen von Expansion und Kontraktion wiederholt.
Innerhalb des Brunnens blieb die Skulptur nahezu verborgen, nur rätselhafte Kurven durchbrachen die Wasseroberfläche. Das Ende der weißen Patina markiert die Wasserlinie. Damit zielt das Werk auf das Unbewusste ab – verweist auf das Wasser als Fruchtwasser. Es entsteht ein Akt der Transformation, beim dem sich durch den Kontakt mit dem Wasser Veränderungen und Störungen innerhalb des Materials aktivieren. Lulù Nuti formt Schmiedeeisen mit feinsinniger Kraft und Flexibilität und lotet dabei dessen äußerste Grenzen aus. Dahinter steht eine persönliche Erfahrung der Künstlerin: auf einer Baustelle erlebte sie, wie ein riesiger Bohrer einen Berg durchdrang – ein mechanisches Wesen, das die Erde zerstörte und zeitgleich die Überreste wieder ausspie –, woraufhin sich der Berg erhitzte, um sich zu verteidigen. Die Skulptur wird somit gleichsam zur Metapher für die Spannung zwischen Zerstörung und Leben, zwischen Maschine und Natur, und tritt in einen zyklischen Dialog mit Nietzsches Rätsel der ewigen Wiederkehr.
Im Zentrum des Galerieraums befindet sich I Bagni Misteriosi (1973) von Giorgio de Chirico (1888 –1978) – ein Werk aus der späten Schaffensphase des Künstlers, die in den 1930er-Jahren begann und bis in die 1970er-Jahre reichte. Die Zeichnung zählt zur sogenannten postmetaphysischen Phase, in der De Chirico theatralischeren und traumähnlichen Kompositionen zunehmend Raum gab. In I Bagni Misteriosi zeigt er von klassischer Architektur gerahmte Wasserbecken, bevölkert von ambivalenten Gestalten – Mannequins, stilisierte Badende, bewegte Statuen oder hybride Wesen.
Die Idee zu den geheimnisvollen Bädern kam mir einmal, als der Boden mit Wachs auf Hochglanz poliert war. Ich sah einen Mann vor mir gehen, dessen Beine sich im Boden spiegelten. Ich hatte den Eindruck, er könne in diesen Boden eintauchen wie in ein Schwimmbecken, sich darin bewegen und sogar schwimmen. So stellte ich mir seltsame Becken vor, in denen Männer im Parkett-Wasser standen, sich bewegten und manchmal innehielten, um sich mit anderen Männern zu unterhalten, die sich außerhalb des Beckens befanden.
Der Brunnen in I Bagni verweist vermutlich auch auf eine Kindheitserinnerung an De Chiricos griechische Heimatstadt Volos. Dort führten gegenüber dem Strand lange Holzstege auf Plattformen im Meer, auf denen sich Kabinen und Leitern zum Wasser befanden – architektonische Elemente, die in vielen Versionen von I Bagni wiederkehren. Ebenso denkbar ist eine ikonografische Anregung durch Lucas Cranachs (1472–1553) Gemälde Der Jungbrunnen (1546, Gemäldegalerie Berlin), auf dem ältere Frauen ins Wasser tauchen und verjüngt wieder auftauchen.
Die erste Version von I Bagni Misteriosi entstand 1934 im Rahmen einer Serie von zehn Lithografien, mit denen De Chirico Jean Cocteaus (1889-1963) Gedichtbänder zur Mythologie illustrierte. Das Thema ließ ihn zeitlebens nicht los – er variierte es immer wieder in Gemälden und grafischen Arbeiten. Das zentrale Motiv des Wassers evoziert Transformation, Übergang und Mysterium; eine rätselhafte Atmosphäre entsteht, in der sich Realität und Fiktion untrennbar vermischen. Der dargestellte Raum wird zur Bühne eines imaginären Rituals, eines Aktes der Reinigung, der Verwandlung oder Wiedergeburt. Wasser erscheint als Schwelle – als symbolisches Element zwischen zwei Zuständen.
Die Werke dieser Serie folgen keiner linearen Erzählung – sie sind visuelle Träume, in Rätseln komponiert. Sie zeugen von einer spielerischen Rückkehr zu den klassischen Mythen und sind zugleich Reflexionen über das Theater des Lebens. Zwischen Ironie und Melancholie formulieren sie eine verschleierte Kritik an der Moderne und dem Verlust des Sinns für das Geheimnisvolle.
Das Rätsel gehört beiden Welten an: der sichtbaren, die es formuliert, und der unsichtbaren, die den Geist drängt, es zu entschlüsseln. Es ist ein Entre-deux – eine Schwelle zwischen Mythos und Realität, Legende und Geschichte.
Ausstellung
03. Juli 2025 - 02. August 2025
Türkenstr. 32, 80333 München