PHILIP GRÖNING
SEEING THINGS
21.11. 2025 - 11.01.2026
Nie zuvor war das Vertrauen in unsere Wahrnehmung einer so tiefgreifenden Erosion ausgesetzt wie heute. KI-generierte Bilder und simulierte Realitäten durchdringen unser visuelles Feld, modulieren Wirklichkeit und erzeugen „alternative Wahrheiten“. Das komplexe Zusammenspiel zwischen künstlich erzeugter, algorithmischer Bildproduktion und der leiblich-sinnlichen Erfahrung des Menschen verschiebt die Grundlagen unseres Sehens fundamental. Genau in diesem Spannungsfeld entfaltet sich die Kunst des Filmregisseurs und Medienkünstlers Philip Gröning – als eine Untersuchung der Bedingungen von Wahrnehmung selbst.
Gröning arbeitet seit Jahren mit generativen und KI-basierten Bildgebungsverfahren und erforscht deren Implikationen für das Verhältnis von Wahrnehmung, Wirklichkeit und Bewusstsein. Die Leerstelle als Setzung und die Abwesenheit als ästhetische Strategie bilden zentrale Konstanten seines Schaffens. Sein vielfach ausgezeichneter Film Die große Stille (2005) beruht auf dem Prinzip radikaler Reduktion: Die vollständige Abwesenheit von Sprache und Musik legt die Essenz des Bildes frei – seine reine, kontemplative Präsenz. Auch seine raumbasierten Lichtobjekte und bildnerischen Arbeiten oszillieren zwischen Präsenz und Entzug, zwischen Wahrnehmung und ihrem eigenen Verschwinden.
Ein frühes Schlüsselwerk bildet seine während eines Villa-Massimo-Stipendiums 2016 entstandene Werkgruppe über den Petersdom. Gröning ließ eine künstliche Intelligenz aus Millionen in den Sozialen Medien verbreiteten Online-Bilder der Basilika und von Michelangelos Pietà (um 1499) ein synthetisches Gesamtbild generieren. Aus der Ferne wirkt die Statistische Pietà (2019) wie eine plausible, leicht unscharfe digitale Reproduktion; aus der Nähe jedoch zerfällt sie in eine muschelgrottenartige Textur aus mikroskopischen Fragmenten. Der Algorithmus verdichtet kollektive Einzelwahrnehmungen zu einem vermeintlichen Ganzen – und offenbart zugleich seine blinden Flecken: Seltenes, Zufälliges, Nicht-Standardisiertes verschwindet als „statistischer Fehler“.
So entsteht ein diaphaner Bildnebel, der zwischen Erscheinung und Auflösung schwebt. Für die Maschine existiert nichts zu hundert Prozent; sie errechnet Wahrscheinlichkeiten. Damit führt Gröning an eine Erkenntnis heran, die bereits Jean-Paul Sartre formulierte: Wahrnehmung ist immer fragmentarisch, perspektivisch, durchsetzt von Abschattungen. Genau diese epistemische Fragilität macht Gröning sichtbar.
Diese Idee setzt sich in der neuen Werkgruppe der LIDAR-Scans fort, die in Seeing Things erstmals öffentlich gezeigt wird. Die filigranen, pointillistischen Landschaftsfragmente auf tiefschwarzem Grund greifen ein urromantisches Motiv auf – das Wandern in der Natur. In Analogie zur Plein-air-Malerei entstehen die Arbeiten unmittelbar vor Ort: Gröning trägt einen LIDAR-Scanner auf seinen Spaziergängen, der mittels Laserlicht die Umgebung abtastet und aus der Laufzeit der Strahlen dreidimensionale Punktwolken generiert.
Doch der Akt der Bewegung wird paradoxerweise zum Akt des Verbergens: Jede kleine Bewegung, jeder Lichtwechsel erzeugt Abweichungen. Der Laser konstruiert, wo er messen kann, und imaginiert, wo er scheitert. Fehlstellen, Überlagerungen und phantomartige Figuren entstehen, die nie existierten. Sehen wird hier zu einem Akt der schöpferischen Fehlinterpretation – eine poetische Analogie zur menschlichen Wahrnehmung selbst, die immer bruchstückhaft, perspektivisch und von Lücken durchzogen bleibt.
Eine komplementäre Drehung erfährt dieses Motiv in Grönings intensiven analogen Laserzeichnungen Reed (2024). Entstanden in völliger Dunkelheit, zeichnete Gröning mit einem Laserpointer die Konturen von Schilf nach und fing diese über lange Belichtungszeiten mit einer Analogkamera ein. In dieser abstrakt-expressiv wirkenden Serie wird das, was wir tatsächlich wahrnehmen können – Licht und Gegenwart – zum eigentlichen Bildnarrativ. Gegenwartsmomente dehnen sich zu Linien, die im Alltag unsichtbar bleiben.
Reed ist Grönings Versuch, selektive Wahrnehmung zu einem einzigen Bild zu verdichten – und zugleich ein Gegenstück zu den synthetischen Kompositionen der KI. Beide Werkgruppen eint die Erkenntnis, dass Wahrnehmung stets fragmentiert ist. Doch Gröning präsentiert diese Fragmentierung nicht als Mangel, sondern als eine eigene Form von Schönheit und als genuine Ästhetik des Sehens.
Philip Gröning (1959, Düsseldorf) lebt und arbeitet in München und Berlin. Nach Studien der Psychologie und Medizin begann er 1982 ein Filmstudium an der HFF München. Sein Spielfilmdebüt Sommer (1986) wurde mit dem Kodak Award ausgezeichnet. Internationale Aufmerksamkeit erregte er 1992 mit Die Terroristen, dessen geplante Fernsehausstrahlung der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl zu verhindern versuchte; der Film erhielt den Bronzenen Leoparden in Locarno und wurde beim Sundance Film Festival gezeigt.
Mit L’amour (2000) und vor allem Die große Stille (2005) etablierte sich Gröning als einer der prägenden Regisseure des europäischen Autorenfilms. Die große Stille wurde weltweit ein Publikumserfolg und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Special Jury Prize in Sundance, dem Europäischen Filmpreis, dem Bayerischen Filmpreis und mehreren Kritikerpreisen. 2013 gewann er mit Die Frau des Polizisten den Spezialpreis der Jury in Venedig sowie den Preis der Deutschen Filmkritik für die beste Kamera.
Gröning war Jurypräsident der Reihe Orizzonti bei den Filmfestspielen Venedig (2006), Mitglied zahlreicher internationaler Jurys und lehrt seit 2001 an der Filmakademie Baden-Württemberg; zudem ist er Professor an der Internationalen Filmschule Köln. 2018/19 hatte er eine Gastprofessur für Freie Kunst an der Akademie der Bildenden Künste München inne.
Parallel zu seiner Filmkarriere arbeitet Gröning als Medienkünstler und setzt sich intensiv mit künstlicher Intelligenz als neuem Medium auseinander. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und präsentierte dort aktuelle KI-bezogene Arbeiten.
Seine Werke wurden u. a. gezeigt im Museum Villa Stuck (München), Tank Space (Shanghai), Bayerische Akademie der Schönen Künste, Volkstheater Wien, Pinakothek der Moderne (München) sowie in führenden Galerien in Berlin, Wien, New York und auf internationalen Kunstmessen (u. a. Art Miami, Art Chicago). Arbeiten von ihm befinden sich in bedeutenden Sammlungen, darunter im Museum of Modern Art (MoMA), New York, der Sammlung Franz Herzog von Bayern und der Sammlung Goetz.
Ausstellung
21. November 2025 - 11. Januar 2026
Türkenstr. 32, 80333 München



