SERENA FERRARIO
IT'S NOT JUST THE OTHERS
09.05.2025 - 29.06.2025
Wann immer Künstler*innen den Mut aufbringen, die vermeintliche Kontingenz des Alltags nicht zu verdrängen, sondern sie mit einer fast manischen Akribie in Bilder, Objekte, Räume zu übersetzen – dann geschieht jene kostbare Implosion, die wir Kunst nennen. Serena Ferrario wagt genau das. Ihre erste Einzelausstellung bei HELDENREIZER Contemporary It’s not just the others ist kein dekorativer Parcours, vielmehr ein existenzielles Labor, ein Kaleidoskop unserer zersplitterten Gegenwart.
Ferrario stellt uns in die Tradition der großen narrativen Zerleger – von Goyas Desastres bis zu Picassos Guernica – und zugleich in die Nähe der „mental theatres“ eines Mike Kelley. Ihre Figuren tauchen auf wie fragile Dämonen, hungrig nach Sinn, nach Nähe, nach Erlösung. Sie sind, um es mit Jean Genet zu sagen, „heilige Monster“: halb Opfer, halb Anklage.
Zeichnung ist bei Ferrario kein leises Vorspiel, sondern die eigentliche Partitur. Die Linie wuchert, springt aus dem Papier, kolonisiert Wände, Böden, ja die Atmosphäre des Raumes selbst. In diesen hypertrophen Netzwerken zirkulieren Melancholie und Satire, Intimität und Groteske – bebende Koordinaten einer conditio humana, die Sartres Diktum „Die Hölle, das sind die anderen“ nicht negiert, sondern erweitert: Die Hölle, so scheint Ferrario zu insistieren, trägt jede*r gleichermaßen in sich, und nur wer die eigenen „hungry ghosts“ umarmt, bricht den Bann.
Bei all dem ist Ferrarios Inszenierung zutiefst musikalisierend gedacht. Wie bei einer Sinfonie treten Stimmen einander gegenüber, verschränken sich, lösen sich wieder ab. Lebensgroße Cut-outs, filmische Fragmente, zerknitterte Zeichnungsleiber – sie changieren zwischen Bühnenbild und Zeugenschaft, zwischen Selbstbekenntnis und kollektiver Fabel. Gerade darin liegt ihre Relevanz: Diese Kunst entlastet nicht, sondern fordert das Publikum heraus, die eigene narrative Komfortzone zu verlassen. Sie appelliert an unsere Fähigkeit zur Integration des Widersprüchlichen, an das Bewusstsein, dass Identität weder monolithisch noch endgültig ist, sondern immer ein umkämpftes Territorium.
It’s not just the others liefert somit den poetischen Nachweis, dass Kunst – wenn sie ernst genommen wird – ein Raum bleibt, in dem wir unsere inneren und äußeren Geister nicht verdrängen, sondern befragen können. Und vielleicht, nur vielleicht, wird aus dieser Befragung ein Funke jener Freiheit geboren, die wir heute dringender benötigen denn je.
Geboren 1986 im lombardischen Crema, geschult in Braunschweig unter Wolfgang Ellenrieder, Hartmut Neumann, Ciprian Mureșan und Isa Melsheimer, hat Serena Alma Ferrario jene technische Präzision verinnerlicht, die das freie Ausfransen ihrer Bildwelten erst erlaubt. Dem Diplom mit Auszeichnung (2016) folgte die Ernennung zur Meisterschülerin (2017) sowie eine Reihe markanter Auszeichnungen – vom Max-Ernst-Stipendium der Stadt Brühl über den Meisterschülerpreis der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz bis hin zum Karl-Schmidt-Rottluff-Stipendium und, 2021, dem einstimmig verliehenen Horst-Janssen-Grafikpreis. Ihre Arbeiten fanden rasch Eingang in institutionelle Sammlungen: Hamburger Kunsthalle, Herzog Anton Ulrich-Museum, Haus des Papiers Berlin und – in Form einer permanenten Installation – das Rathaus der Stadt Brühl.
Ferrario operiert als eminente Zeichnerin der Ambivalenz. Aus tastenden Skizzen spinnt sie serielle Geflechte, in denen Figuren von Blatt zu Blatt, von Cut-out zu Wandzeichnung migrieren. Farbe wird nahezu verbannt; Schwarz, Weiß und die Vibration der Zwischentöne liefern das Material für ein analytisches Ballett des Strichs. Immer wieder verlässt die Linie ihr zweidimensionales Gehege, breitet sich als Siebdruck, Fotokopie oder tiefgezogenes Kunststoffelement in den Raum aus und absorbiert ihn. Parallel entstehen Filme, gespeist aus eigenem und gefundenem Material, Zeitungsausrissen und Zeichnung: surreale Kippbilder, in denen real, imaginär und erinnert ununterscheidbar werden.
Seit 2016 treten Ferrarios biografische Spannungen – rumänische Mutter, italienischer Vater, gelebte Migration – deutlicher hervor. Als selbsternanntes „Third Culture Adult Kid“ verwandelt sie die inneren Bruchlinien ihrer Herkunft in eine dritte, künstlerische Kulturzone, in der das Unvereinbare wohnen darf. Genau darin liegt die Relevanz: In It’s not only the others demonstriert Ferrario, dass das Fragment nicht Mangel, sondern Potential ist – ein Ort, an dem Identität, Geschichte und Geister der Vergangenheit neu verhandelt werden können, jenseits nationaler oder narrativer Eindeutigkeit.
Ausstellung
09. Mai 2025 - 29. Juni 2025
Türkenstr. 32, 80333 München